kyrillz Paul Klein

Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt Louise über die Sommerferien in ihre Heimatstadt Goutter im Norden Frankreichs zurück, um ihrer Beerdigung beizuwohnen. Da sie dringend Geld benötigt, nimmt sie ein Stellenangebot in der Stadt an. Sie wird für die Dauer der Ferien bei dem ominösen alten Mann Vincent als Reinigungskraft arbeiten. Nicht nur wird Louise hier von ihrer Vergangenheit eingeholt, es geschehen auch seltsame Dinge um sie herum. Die Grenze zwischen Realität und dem Unmöglichem verschwimmt.


Horror Ghost stories Not for children under 13.

#drama #psyche #trauer #tot #horror #geister #düster #romantik #
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Nur ein alter Mann

Vincent. Ein kurioser Mann, so würden ihn die Meisten wohl bezeichnen. Unheimlich ist ebenfalls ein Begriff, der oft mit seinem Namen in Verbindung gebracht wurde. Es war seine isolierte Lebensweise, die für uns Kinder Grund genug war, zahlreiche Gruselgeschichten über ihn zusammenzureimen. So sei er zum Beispiel ein Geist, aus längst vergessenen Zeiten. Und von den entführten Kindern, verloren in dem unendlichen Labyrinth seiner gewaltigen Villa, möchte ich gar nicht erst anfangen. Ich selbst habe mir einst, ich muss elf oder zwölf Jahre alte gewesen sein, eine Gruselgeschichte ausgedacht. Die genannte Villa auf dem Hügel, dessen Schatten sich über die gesamte Kleinstadt erstreckte (vorausgesetzt die Sonne stand richtig), war selbst ein Dämon aus der Hölle und Vincent seine Marionette. Leider kam ich nie dazu, diese Geschichte zu erzählen, vergessen habe ich sie aus irgendeinem Grund nicht. Die Erwachsenen sagten zwar immer, wir sollten den armen Mann doch in Ruhe lassen, doch still und heimlich ließen sie ihrer Fantasie selber freien Lauf, da bin ich mir sicher.


Natürlich war alles Quatsch. Das war uns damals auch schon klar. Doch wenn wir uns oft genug diese Geschichten anhörten und erzählten, vergaßen wir, dass wir gar nicht daran glaubten. Man sollte meinen, dass wäre ein sehr kindliches Attribut. Je weiter ich darüber nachdenke, desto mehr begreife ich, dass Selbsttäuschung auch mit dem Älterwerden immer eine große Rolle spielt. Soweit sogar, dass es manchmal unmöglich scheint, die Realität und die eigene Wahrnehmung voneinander zu trennen. Letzten Endes ist die Welt immer nur die verzerrte Auffassung und Interpretation durch unsere Person. Was ist schon die Realität?


Das Vincent weder okkult noch pädophil war, dürfte meines Erachtens der Realität entsprechen. Er war lediglich ein resignierter, alter Mann, der sein Geld durch sein Autordasein verdiente. Was genau er schrieb, habe ich nie in Erfahrung gebracht. Die Villa hat er angeblich vererbt bekommen, von seinem Großvater. Das war alles noch lange, bevor ich das Licht der Welt erblickte. Ich kann mich gut an ihn erinnern, obwohl ich ihn zuvor nur wenige Male als Kind gesehen habe. Er war gelegentlich mit seiner Frau Adelais auf dem Wochenmarkt. Um den eigenen vier Wänden zu entfliehen und nicht dem Wahnsinn zu verfallen, so sagte man. Er war ein kräftiger Mann, was nicht heißen soll, dass er durch und durch fett war. Er war halt breit gebaut. Bestimmt hat sein Körperfett einen recht großen Anteil seiner Statur ausgemacht. Trotzdem sah er aus, als könnte er einem Bären das Handwerk legen. Dabei war er recht klein, irgendwo zwischen 1,65Meter und 1,7 Meter. Sein kurzes graues Haar hatte er in der Öffentlichkeit stets platt nach hinten gegelt und sein Bart explodierte in alle Richtungen. Ich sah ihn immer nur mit dunkelblauem Anzug, passend zu seinen Augen mit der gleichen Farbe. Von diesen Anzügen muss er einige gehabt haben. Und dann war da noch sein volumenreiches Lachen, wenn Stephan vom Obstmarkt ihm ein Witz erzählte. Ganz wie es die Klischees hergaben, fasste er sich dabei an den Bauch und hob den Kopf in die Luft. Adelais hingegen stand immer nur schweigend daneben, in einem schönen weißen Blumenkleid, das bis über die Knie ging. Ein Lächeln zeigte sie auch manchmal. Würde ich ihnen heute begegnen, ganz unvoreingenommen, wären sie mir vermutlich sympathisch.


Ich hätte niemals gedacht, dass ich Jahre später zurückkehren und bei Vincent als Haushaltshilfe arbeiten würde. Es ist lange her, dass ich zuletzt in Frankreich war. Ehrlichgesagt bin ich seitdem ich mit 15-Jahren nach Deutschland gezogen bin, nicht mehr dort gewesen. Inzwischen bin ich 24. Ich wollte nicht zurück. Zurück in diese Drecksstadt. Zurück zu meiner labilen und geisteskranken Mutter. Zurück in dieses Gottverlassene Loch, in dem es immer regnete. Welch Ironie, dass diese Kleinstadt auf den Namen Goutter (Tröpfeln) getauft wurde. Tatsächlich war es die meiste Zeit bewölkt und regnete im Landesvergleich auch überdurchschnittlich viel. Das lag aber weder an irgendeinem Fluch noch an Vincent oder seiner Villa. Schlicht die geographische Lage war verantwortlich dafür, dass viele Tiefdruckgebiete und Kaltfronten durch das Gebiet strömten. Zumindest habe ich das so vor drei oder vier Jahren in einem Artikel gelesen. "Die nasseste Stadt Frankreichs". Vermutlich das erste und das letzte Mal, dass Goutter so viel Aufmerksamkeit durch Medien erlangte. Und ihr könnt mir glauben: Der Bericht hat die Ortschaft für Touristen nicht wirklich sehenswürdiger gemacht. Nicht sonderlich bedauernswert, wenn ihr mich fragt.


Es sollte nun also sein. Ich saß im Bus, Kabelgebundene Kopfhörer in beiden Ohren und war nur noch anderthalb Stunden von Goutter entfernt. Ich weiß nicht mehr, was lief, ich meine es war irgendeine Lo-Fi Playlist. Um der Musik lauschen zu können, war mein Kopf zu voll. Oder zu leer? Ich starrte geistesverlassen mit meinen grauen Augen aus dem Fenster und spielte mit meinem braunen Haar. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich es noch nicht ausreichend realisiert. Sie war jetzt also wirklich Tod. Und ich durfte meine Sommerferien damit verbringen, zu dem Drecksloch zurückzukehren, um an ihrer Beerdigung teilzuhaben. Danke. Danke für nichts. Ich hasse dich Mommie.


July 18, 2023, 7:26 p.m. 0 Report Embed Follow story
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